Morgens bringe ich den Luis in die Kindergruppe, dann gehe ich weiter in mein Büro. Aber manchmal will der Luis nicht gehen, und ich habe auch keine Lust: immer der gleiche Weg…
Dann sage ich zu Luis: „Aber willst du nicht den großen Bagger an der Baustelle anschauen?“ Schwupps, will er nur noch den Bagger anschauen. Und zu mir selbst sage ich auch: „Was ist mit dem großen Bagger?“ Schwupps, freue ich mich auf den immer gleichen Weg.
Und wir gehen los.
An Baggern herrscht hier kein Mangel. Unser Viertel ist ein Zentrum der deutschen Bauwirtschaft. Wenn ihr woanders langweilig wird, wenn sie sonst nichts zu baggern und zu buddeln, zu kranen und zu graben, zu mörteln und zu mauern, zu schachten und zu schlammen hat, dann denkt sie: „Ach, fahren wir mal in die Straße vom kleinen Luis und reißen da ein Haus ab oder bauen ein paar Eigentumswohnungen.“ So ist sie, die Bauwirtschaft, hat uns einfach lieb.
Also gehen Luis und ich morgens zur nächsten Baustelle und schauen dem Bagger zu, wie er durch die Baugrube hetzt, hier baggernd, dort schaufelnd, ein Mäuerchen umstoßend, einen Sandberg umlöffelnd. Luis guckt und guckt.
Was er denkt? Ach, wäre mein Vater doch ein Baggerfahrer, könnte ich der Sohn eines Baggerfahrers sein, Spross eines mächtigen Geschlechts von Baggerfahrern, welcher einst selbst im Befehlsstand eines Baggers sitzen wird, Hebelchen und Rädchen und Knöpfchen bedienend …
Und ich? Was denke ich? Ich denke, dass so ein Bagger was von einem Käfer hat, einem nervös krabbelnden, mit langem Arm um sich herum rüsselnden Kerl auf der Suche nach Nahrung. Je länger ich mit Luis da stehe, desto mehr komme ich mir vor wie ein Käferkundler bei seinen subtilen Jagden, und desto mehr erscheinen mir die Bauarbeiter wie vom Großkäfer geknechtete Unterkäfer, die ihm zu Diensten sein müssen bei seinen Käferarbeiten.
Der Lastzug, der die Erde wegfährt – sieht er nicht aus wie eine sich mühsam aus der Grube herausarbeitende Raupe? Und das komische gelbe Kettengefährt, das hohe Bohrstangen langsam in den gelbbraunen Untergrund der Baustelle dreht – das könnte ein weiblicher Käfer sein, der seine bernsteinfarbenen Eier ablegt, nicht wahr? Das summende Atlas-Aggregat, mit dem man Presslufthämmer antreibt – eindeutig ein pumpender Maikäfer.
Irgendwann müssen wir weiter, sonst kommen wir zu spät. Aber der Eindruck bleibt. Plötzlich erscheint mir alles um mich herum wie eine Insektenwelt: der kleine orangefarbene Straßenfegewagen der Stadtwerke wie eine brummende, im Laub raschelnde Hummel; der Gullypumper mit seinem schwarzen Schlauch wie eine Biene, die ihren Rüssel in eine Blüte senkt; die Autos, die Straße für Straße hinunter in die City drängen zu Büros und Kaufhäusern wie bewusstlos zur Arbeit wandernde Ameisen.
Und Luis? Und ich? Wünschen der deutschen Bauwirtschaft alles Gute und immer reichlich Aufträge in unserer Gegend.
AXEL HACKE
Geboren 1956 in Braunschweig, lebt als Schriftsteller und Journalist in München. Viele seiner Bücher sind Bestseller, zuletzt 2017 „Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen“. Woche für Woche erscheint seine Kolumne „Das Beste aus aller Welt“ im „Süddeutsche Zeitung Magazin“.