Versteckt in einem Kölner Hinterhof befindet sich das Atelier des Künstlers Siegfried Anzinger. Kleine Terrakotta-Figuren halten auf Betonblöcken stumm Wache. Sie blicken auf einen Raum, in dem sich dicht an dicht Leinwände drängen, in den Ecken türmen sich Farbtöpfe und Pinsel. Anzinger, 65 Jahre alt, trägt Hemd und Überzieh-Pullover zur Jogginghose. „Hier zeichne ich täglich vier Stunden und male vier Stunden. Dazwischen ärgere ich meinen Sohn und schaue etwas Fernsehen. Das ist Alltag, kein Pathos“, sagt er und lacht.
Siegfried Anzinger war Teilnehmer der documenta in Kassel, auf der Biennale Venedig vertreten und ist seit 1997 Professor für Malerei an der Staatlichen Akademie Düsseldorf. Unter Kunstkennern hat er eine treue Anhängerschaft gewonnen. Auch Prof. Dr. h. c. mult. Reinhold Würth schätzt seine Werke: Das erste erwarb der Unternehmer 1987 in einer Galerie in Salzburg. Mehr als 30 Jahre später befinden sich rund 150 Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen in der Sammlung Würth.
„ETWAS MELDET SICH IN MIR: KOMM, STELL MICH DAR.“
Eine Ausstellung im Museum Würth stellt Anzingers Werk noch bis zum 13. Oktober vor.„Blick zurück und nach vorn“ lautet der Titel der Werkschau. „Eigentlich schaue ich nicht gern zurück, Retrospektiven haben mich nie besonders interessiert“, sagt Anzinger, während er eine Auswahl seiner neuesten Werke an die weiße Atelierwand in Köln hängt. Bei den Vorbereitungen zur Ausstellung bemerkte er aber einen Sinneswandel: „Dank Herrn Würth wurde ich mit der Vergangenheit konfrontiert. Und dabei habe ich mich mit meinen alten Arbeiten mehr versöhnt, als ich erwartete“, sagt er. Wieso er sich mit seinen Werken von früher überhaupt erst vertragen musste, wird er später erzählen.
Angesprochen auf seine Vergangenheit berichtet er erst einmal von seiner Lust an den Künsten: „Während andere in den Siebzigerjahren demonstrierten, ging ich lieber ins Kunsthistorische Museum“, erinnert er sich. Großen Anteil an dieser Leidenschaft hatte seine Großmutter, die ihn als Kind mit Kunstbüchern überhäuft hatte: „Mit sechs Jahren wusste ich schon, wer Tizian ist.“ Er bewahrte sich die Neugierde, absolvierte ein Studium an der Akademie der bildenden Künste in Wien und zog Anfang der Achtzigerjahre nach Köln. „Ursprünglich wollte ich Wien nur für ein Jahr verlassen, aber ich bin in Köln hängengeblieben. Da tat sich viel zu der Zeit.“
MUSEUM WÜRTH
Die Ausstellung „Siegfried Anzinger. Blick zurück und nach vorn“ ist bis zum 13. Oktober 2019 zu sehen.
MUSEUM WÜRTH
Reinhold-Würth-Straße 15
74653 Künzelsau-Gaisbach
www.kunst.wuerth.com
Öffnungszeiten
täglich 11–18 Uhr
Eintritt frei
Barrierefrei
Ein Grund, warum Anzinger sich bis heute im Rheinland wohlfühlt, hat mit seiner Wandlung als Künstler zu tun: „In Österreich ist der Expressionismus sehr bedeutend. Hier werde ich davon in Ruhe gelassen.“ Waren seine älteren Werke expressiv und gestisch, sind die neueren wesentlich zurückhaltender. „Das extrem Gestische war ein Zeichen von Angst – wie bei einem, der im Wald laut singt, um die unheimlichen Geräusche nicht zu hören. Aber irgendwann wird das Laute blöd“, sagt er.
Beim Betrachten seiner aktuellen Werke fällt die vielfältige Motivwahl auf: wilde Tiere, Landschaften, Indianer, erotische Darstellungen. Mehr als das Motiv an sich interessiert den Künstler jedoch die Umsetzung einer bildnerischen Idee: „Man darf der Malerei nicht mit einem überwichtigen Motiv konkurrieren.“ In dieser Haltung spiegelt sich sein eigener Schaffensprozess. Um ans Ziel zu kommen, darf er bloß nicht zu zielstrebig sein: „Wenn ich mein Ich zurückstelle, als würde eine fremde Hand malen, ist die Chance auf ein gutes Ergebnis höher.“ Für Anzinger geht es dabei vor allem auch um Selbstentdeckung. „Ich liefere mich dem Malprozess aus, um herauszufinden, was mein Unterbewusstsein mit mir vorhat.“ Als Inspirationsquelle genügt er sich deshalb selbst: „Etwas meldet sich in mir: Komm, stell mich dar.“
DIE TEILNAHME AN DER DOCUMENTA 7 IN KASSEL 1982 MACHTE SIEGFRIED ANZINGER BEKANNT.
Anzinger beschreibt sich als „Schnellmaler“: Höchstens zwei Tage benötige er für ein Bild, meistens sogar nur wenige Stunden. Trotzdem liegen unter jedem seiner fertigen Werke viele verworfene Fassungen. „Ich wasche die Leimfarbe immer wieder von der Leinwand ab und male das Motiv von Neuem.“ Die fertige Arbeit bezeichnet er auch als „die Summe aller Korrekturen“. Auch in dieser Hinsicht hat er sich gewandelt – was allerdings dem Alter geschuldet ist. „Mit 25 kannst du den Berg fünfmal hoch und runter laufen“, sagt er, „aber wenn man nicht mehr die Puste hat, muss man intelligent werden, um in der gleichen Zeit den Gipfel zu erreichen. Ich kann mir die tausend Sackgassen nicht mehr leisten.“ Wie man die falsche Abzweigung vermeidet, hat Anziger herausgefunden: „Das Bild erklärt mir, wenn es kein Zurück mehr gibt. Dann ist es fertig.“
Es gibt sie also doch, die Botschaft hinter der Kunst von Siegfried Anzinger: Seine Kunst ist die Kunst loszulassen.